Interview mit Sabine Hertwig, von Laura Lindemann, erschienen in der WAZ am 05.07.2024

Viele junge Menschen an Rhein und Ruhr haben gerade ihr Abi gemacht und wissen noch nicht, wie es danach weitergeht. Ist das in Ihren Sprechstunden ein Thema?

Sabine Hertwig: Wir haben immer wieder Eltern hier in unserer Essener Praxis, deren Kinder nach dem Abschluss den Absprung ins eigene Leben verpasst haben. Teilweise sind sie schon seit Jahren zuhause, ohne einer Tätigkeit nachzugehen. Es kommen aber auch junge Menschen zu uns, die gerade Abi gemacht haben und nicht wissen, was sie danach machen sollen. 

 

Woran liegt das? 

Viele haben einen gesellschaftlichen Druck, nach dem Schulabschluss nahtlos in eine Ausbildung oder ins Studium gehen zu müssen, um dann möglichst schnell in einen Beruf einzusteigen. In diesem Zustand fühlen sie sich dann wie gelähmt. Zudem vergleichen sich die Jugendlichen nicht mehr nur mit ihren Freunden, sondern durch Social-Media-Plattformen wie TikTok und Instagram mit der ganzen Welt. Dort wird ihnen zum Teil vorgegaukelt, dass sie etwa als Influencer mit wenig Arbeit viel Geld verdienen können. Daher denken viele, sie könnten auch so ein Leben führen, ohne eine Ausbildung abzuschließen. Eine weitere Ursache liegt im Schulsystem.

 

Inwiefern?

Das System ist stark auf Anpassung und Leistung ausgelegt. Häufig fällt bei den Jugendlichen nach dem Abi Druck ab, einige fallen sogar in ein emotionales Loch. Oft wissen sie in diesem Zustand nicht, was sie wollen – und brauchen Unterstützung.

 

Können Eltern schon etwas tun, während ihr Kind noch zur Schule geht?

Es ist wichtig, dass Eltern den Schulerfolg ihrer Kinder nicht zu hoch hängen. Vielmehr sollten sie sie in ihren Fähigkeiten stärken, indem sie etwa Hobbys fördern wie Sport, Kunst oder Technik. Wenn von den Eltern Druck kommt, brauchen sie oftmals länger, weil sie sich selbst erst finden möchten. 

 

Wie können Eltern das Gespräch suchen?

Es geht vor allem darum, Ansprechpartner zu sein und das Thema immer mal wieder beiläufig im Alltag aufkommen zu lassen. Eltern sollten dabei immer in Ich-Botschaften sprechen. Und wenn sie etwa mit dem Berufswunsch ihres Kindes nicht übereinstimmen, können sie ruhig ihre Bedenken äußern. Es soll aber nicht darum gehen, die Jugendlichen in eine Richtung zu drängen, letztlich sollten sie selbst über ihre Zukunft entscheiden.

 

Das Abi ist durch, aber das Kind weiß noch nicht, was es machen möchte. Was tun?

Ich rate Eltern, klar ihre Grenzen zu formulieren. So können sie den Jugendlichen zum Beispiel sagen, dass sie es als Elternteil nicht aushalten, wenn das Kind den ganzen Tag auf dem Sofa verbringt, anstatt sich um seine Zukunft zu kümmern. In der Praxis treffe ich häufig auf Mütter und Väter, die ihren Kindern schon viel zu lange zu viel Geld bezahlen. Dabei ist es wichtig, dass die jungen Menschen lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und ihren Teil zur Gesellschaft beizutragen. Und da geht es nicht darum, direkt in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Orientierungsphasen durch Praktika, Work-and-Travel oder Freiwilligendienste finde ich durchaus sinnvoll.

 

Wie lange sollte eine Pause nach dem Abi andauern?

Das hängt vom Jugendlichen und seiner Situation ab. Ich finde vier Monate einen guten Richtwert, da man in dieser Zeit noch Kindergeld bekommt. Spätestens nach einem halben Jahr sollten Eltern das Gespräch zu suchen. Denn wer zu lange chillt, verliert den Antrieb.